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Erinnerung funktioniert wie ein Kaleidoskop

Gedanken von Birgit Heinrich zu “Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop” von Durs Grünbein

Vor fast einem Jahr war Durs Grünbein in der Slub zu Gast. Er hatte in den späten 1980iger Jahren Texte in inoffiziellen Künstlerzeitschriften veröffentlicht und in den 1990ern mit KünstlerInnen Buchprojekte entwickelt. Simone Fleischer und Julia Meyer kamen mit Durs Grünbein über diese künstlerisch-literarische Zusammenarbeit ins Gespräch. Grünbein hatte auch Passagen aus seinem Buch „Die Jahre im Zoo“ vorgelesen.

Hellerau Schule

„ Die Jahre im Zoo“ von 2015 sind weit mehr als eine Autobiographie seiner Kinderjahre in der Gartenstadt Hellerau. Das Buch ist ein Kaleidoskop aus Geschichten, seltenen Fotos und Gedichten. Es war ein Wunsch von ihm, seine Kindheit aufzuschreiben, wie er auch im Text bemerkte.

Er sinniert unsentimental in epischer Breite über seine Kinderjahre in der Gartenstadt Hellerau. Sehr persönlich greift er dabei weit in seine früheste Kindheit zurück, schildert anschaulich Albträume, die ihm damals schon die Gewissheit der Sterblichkeit offenbarten. Und die hilflose Ignoranz seiner Eltern zu seinen Qualen machten es ihm nicht leicht. Sein Vater arbeitete in der Flugzeugwerft Klotzsche, seine Mutter in der Mikroelektronik.
Aufgewachsen in einem dreißiger Jahre Einfamilienhaus mit nur zwei Zimmern für die kleine Familie, darüber wohnend ein grämliches Rentnerehepaar, beschreibt er die Besonderheiten der Gartenstadt. Der eigentlich kurze Schulweg mit der ständig drohenden Schuluhr, sein häufiges Zuspätkommen und daraus zwangsläufigen verbalen, aber beschämenden Bestrafung machten ihm den Schulbesuch oft unerfreulich.
Mit Schulkameraden wurde durch Hellerau ständig gestromert, man ging auf die verbotene Müllhalde und machte auch sonst etlichen Streiche, z.B. setzte er sich mit seinen Freunden auf die Schiene der Straßenbahn und wich auch nicht, als diese kam. Oder man stahl ein Spielzeuggewehr und vergrub es dann panisch ausgerechnet auf dem Friedhof. Obwohl er nicht der Drahtzieher war, wurde er doch oft dafür gehalten und entsprechend geächtet. Auch das war ein Grund für seinen Rückzug in sich selbst. In der Freizeit verließen die Jungen das Haus nicht unbewaffnet, Schrotflinte oder Wurfmesser gehörten einfach dazu! Bemerkenswert ist auch die Beschreibung, wie er mit seinem Vater wöchentlich den Hausmüll zur Halde bringen musste und unter den Augen des giftigen Haldenwarts entsorgen.
Früh entdeckte er die Autonomie für sich, wie es bei fantasievollen Träumern naheliegend ist.
Mit wachsenden Alter erweiterter er seinen Bewegungsradius enorm durch ausgedehnte Radfahrten, Ziele waren die Moritzburger Seenlandschaft, die Dresdner Heide, Weixdorf und auch ins Stadtgebiet Dresden. Mit einem selbstgebauten Tandem fuhr er mit einem Freund bis nach Ungarn, hier wurde man umständehalber getrennt. Er schlug sich dann einige Tage allein durch, schlafend in einem Park. Dabei hat er „Verlorensein“ schmerzhaft erlebt. Wie froh waren die Jungs, dann wieder in der verschlafenen Gartenstadt gelandet zu sein.
Liebevoll berichtet er vom Indianerkult, dem in der DDR, diesem kleinen „neurotischen“ Land gehuldigt wurde, und wie er und seinen Freunde auch stolze „Rothäute“ spielten.

Am Grünen Zipfel

In der Pupertät rühmte er sich erdachter erotischer Taten vor seinen Freunden, denn denen zu erzählen, dass er stundenlang Löwenzahn im elterlichen Garten gestochen hatte, wäre nicht spektakulär angekommen. Er beschreibt seine Weltvergessenheit bei den Gartenarbeiten und immer wieder auch seine Bewunderung für Schmetterlinge. Die detailgetreuen Schmetterlingskizzen ziehen sich durch das gesamte Buch.
Jahre später kommt er besuchsweise nach Hause, endlich, leider viel zu spät, kann er in der Dachkammer wohnen. In einem „Kindertotenlieder“überschriebenen Kapitel zählt er verschiedenen Unglücksfälle auf, die er gedanklich selbst auch erlebt hat : Da wäre der „Schöne“, der auf der Eisbahn auf die Brust fiel, er hatte einen Herzschrittmacher, was unbekannt war, ein anderer Junge wurde vom Zug erfasst, als er im Wald die Gleise überqueren wollte, Einer fuhr freihändig mit dem Rad, ein Letzter ertrank beim Baden.
Sein Taschengeld konnte er etwas aufbessern mit der sehr anstrengenden und auch nicht ungefährlichen Hilfe an der Kegelbahn der Arbeitskollegen seines Vaters.
Immer wieder tauchen Reminiszenzen über Frank Kafka und Paul Adler auf, Adler lebte zeitweise in Hellerau und Kafka hat ihn besucht. An diesen Stellen werden auch geschichtliche Zusammenhänge aufgezeigt. Zu Paul Adlers „Nämlich“ – „das Elend der Welt erdrückt“ zieht Grünbein persönliche Parallelen, auch er hatte „Entwurzlungsgefühle“, besonders während der Armeezeit.
Nicht chronologisch ist der Text, so wird später noch einmal auf die Kindheit zurückgegriffen, als einige Szenen im Zusammenhang mit den in den Kasernen Helleraus stationierten Russen auftauchen. Die Russen wurden als unauffällig wahrgenommen, der Protagonist und seine Freunde „trauten“ sich öfter in die Nähe der Kasernen und sogar einmal direkt in ein Manöver. Die Russen werden als freundlich dargestellt, man hatte einen kleinen Tauschhandel mit ihnen, so wurden Aktfotos aus dem „Magazin“ gegen Papirossi getauscht. Auch zwei schlimmere Zwischenfälle mit betrunkenen russischen Soldaten werden erwähnt. Erschreckend wird die Menschenverachtung und Brutalität der Offiziere gegenüber den einfachen Soldaten beschrieben.
Am Ende des Buchs wird ausführlich über Zoobesuche und die Pioniereisenbahn berichtet. Der Autor hatte offensichtlich eine große Affinität zum Dresdner Zoo.
Im Buch klingt immer wieder das Gefühl des „Eingesperrtseins“ in der DDR an, welches der Autor früh schon bewusst erlebt hatte.

Foto: stephan-roehl.de
Biografie Durs Grünbein – erstellt von Birgit Heinrich

Durs Grünbein ist ein deutscher Dichter und Essayist, geboren am 9. Oktober 1962 in Dresden. Er zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Lyrikern im deutschsprachigen Raum. Sein Werk umfasst Gedichte, Essays und Übersetzungen.
Grünbein studierte von 1982 bis 1985 Philosophie, Theaterwissenschaft in Berlin (1987 abgebrochen) und von 1985 bis 1990 Ästhetik an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden. Danach arbeitete er als freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitschriften. In den 1980er Jahren war er in der oppositionellen Künstlerszene der DDR aktiv. Nach dem Fall der Berliner Mauer unternahm er Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Grünbein lebt als freier Schriftsteller in Rom.
Seine Gedichte zeichnen sich oft durch eine komplexe, intellektuelle Sprache und eine Auseinandersetzung mit philosophischen, kulturellen und historischen Themen aus. Grünbein hat zahlreiche hochkarätige Auszeichnungen erhalten, darunter den Georg-Büchner-Preis im Jahr 1995.
Einige seiner bekanntesten Werke sind “Schädelbasislektion” (1991), “Falten und Fallen” (1994), “Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt” (2005) und “Vom Schnee oder Descartes in Deutschland” (2011).

Im Bestand der SLUB sind folgende Bücher nachgewiesen (eine Auswahl):


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
petrametzelthin (29. Januar 2024). Erinnerung funktioniert wie ein Kaleidoskop. SLUB TextLab. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/vow5


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